Der Verlorene Zwilling
„Am Anfang waren wir zu zweit“. Dieses Buch von Ilka-Maria Thurmann und Uta Fischer erzählt in Bildern eine Geschichte des Verlorenen Zwillings: wenn es am Anfang im Mutterleib mehrere Babys waren und dann nur eins geboren wird. Dann gibt es in der Familie nicht nur die auf der Erde lebenden Menschen („Erdenkinder“) sondern auch ein oder mehrere „Seelenkinder“ (Sereina Heim).
In der Medizin ist es als „vanishing twin syndrome“ oder auch „lost twin syndrome“ bekannt und im ICD-10-Code diagnostisch erfasst.
Ich bin ein alleingeborener Drilling und Mama eines alleingeborenen Zwillings. Ich persönlich beschreibe die Erfahrung des Verlorenen Zwillings als eine Mischung aus verschiedenen Gefühlen: Zuerst ist da im Babybauch ein so wundervolles Hochgefühl der Liebe, Lebensfreude und Verbundenheit mit mehreren Lebewesen (Zwilling oder Mehrlinge, und die eigene Mama). Und dann ist da noch ein „Drama im Mutterleib“ (Alfred R. und Bettina Austermann): Verlust- und Todesängste, Schock, Kontrollverlust, Verlassenheit, Einsamkeit, Traurigkeit, Sehnsucht.
Mir ist es inzwischen gelungen, den Schatz in dieser Erfahrung zu heben und meine empathischen und feinfühligen Fähigkeiten als Ressource für mich, meine eigene Familie und auch insbesondere für meine Arbeit mit Kindern und Familien zu leben. Ich spüre in mir auch eine starke Antriebskraft und einen wunder-vollen Lebenswillen, vielleicht aus diesem Einheits- und Allverbundenheitsgefühl heraus.
Und dann gibt es Momente, die immer noch nicht leicht sind für mich: wenn ich traurige Abschiedsszenen am Bahnsteig oder im Film sehe. Wenn ich weine und mich der Strom an noch so vielen ungeweinten Tränen fast überwältigt.
Das Einheitserlebnis und die Verlusterfahrung können viele unterschiedliche Auswirkungen auf das Leben haben. Hier ein paar zentrale Aspekte, worum es häufig in meiner Arbeit mit Kindern und Familien geht:
Die eigene Grenze und die Grenze des anderen auf eine gesunde Art und Weise spüren
Menschen mit der Erfahrung des Verlorenen Zwillings nehme ich als sehr feine und empathische Menschen wahr. Eltern beschreiben ihre Kinder meist so, dass sie die Stimmung in der Klasse oder in einer Gruppe und die Gefühlslage von anderen Menschen sehr gut erfassen können. Oft wollen sich diese feinfühligen und verantwortungsvollen Kinder mehr um die anderen als um sich selbst kümmern. Wenn jedoch viel Leid und Ungutes in der Luft liegt, kann aus einem eigentlich sehr empathischen und konstruktiven Mit-Fühlen ein überwältigendes Mit-Leiden werden. Die Gefühle, Gedanken, Worte und Energien des anderen dringen ungefiltert ins eigene System.
Hierzu ein Beispiel aus dem Schulalltag eines Mädchens: Immer wenn sie Zeuge wird, wie ein Mitschüler von der Lehrerin oder von einem anderen Kind gedemütigt, beleidigt oder erniedrigt wird, dann erlebt sie dies mit einer überwältigenden Intensität als ihre eigene Demütigung und versinkt in einem schmerzvollen Mitleiden. Das Mädchen kann dann nicht mehr unterscheiden zwischen ihren eigenen Gefühlen und denen ihres Mitschülers. Dann kann sie ihm nicht mehr helfen, obwohl sie ihm ja eigentlich so gerne beistehen will. Daraus entstehen wiederum Emotionen von Hilflosigkeit, Kontrollverlust, Schuldgefühle, Aggression und Überforderung.
Daher begleite ich Kinder und Familien dabei, sich selbst wieder besser wahrzunehmen und zu differenzieren: Wo ist meine Grenze? Wo hört der andere auf und wo beginne ich? Gehört diese Emotion zu mir oder zum anderen? Wie gelingt es mir, ich selbst zu sein? Mithilfe der Reflexintegration (KinFlex® und V.E.N.U.S.®), dem Lösen von pränatal eingeschlossenen und übernommenen Emotionen (Emotion Code®) und weiteren Methoden, sich aus Verstrickungen zu befreien, werden die gesunde Abgrenzungsfähigkeit und die Wahrnehmungsfilter für die eigenen Gefühle und Bedürfnisse gestärkt. Auch Hochsensibilität kann statt als Bürde nun als Gabe sinnvoll erfahren werden.
Freundschaften sind irgendwie anders
Eine Mama erzählte es so: Ihr 4-jähriger Sohn ist wie zur Salzsäule erstarrt, als er gesehen hat, wie sein bester Freund ein anderes Kind umarmte und dessen Worte hörte: „Du bist mein Freund.“
Auch meine Tochter begleite ich bei ihren immer wieder aufkeimenden Trennungsschmerzen, wenn sie an ihre erste Kindergartenfreundin denkt. Ihre Freundschaft war sehr innig. Aber als es im letzten Kindergartenjahr zerbrach, war es unfassbar schlimm für meine Tochter. Plötzlich war der Platz, den der verlorene Zwilling leer hinterlassen hatte und der durch die erste allerallerbeste Freundin gefüllt erschien, wieder die offene Wunde im Herzen.
Der Wunsch nach der einen besten Freundin oder dem einen besten Freund kann so groß sein. Und dann kommt sie/er nie, es passt dann doch nicht oder es geht ganz plötzlich auseinander. Freundschaften gehen immer wieder verloren. Oder der Mensch erlaubt es sich nicht, sich auf eine tiefe Freundschaft einzulassen, weil der imaginäre Platz des Zwillings freigehalten wird und eine erneute Trennung zu schmerzhaft wäre.
Das geht oft einher mit dem Gefühl, dass etwas im Leben fehlt. Was ja auch die innere Wahrheit ist: Eine Seele fehlt im System. Das Erdenkind ist vielleicht nicht wirklich mit dem ganzen Herzen bei den Lebenden. Es schaut nach der verstorbenen Seele. Eine vielleicht unstillbare Sehnsucht, wie oben auf dieser Seite in der Zeichnung zu sehen ist.
Also lasst uns den Seelenkindern wieder einen Platz im Familiensystem geben. „Sie wollen nicht vergessen werden“, wie es Sereina Heim in ihrem Buch beschreibt. Und die Erdenkinder dürfen im Frieden mit sich und der Welt sein. Meine Tochter sieht in ihrem Verlorenen Zwilling eine Art Schutzengel, der sie beim Übergang in diese Welt begleitet hat.
Viele mögliche Auswirkungen
Die Liste an möglichen Auswirkungen eines Zwillings- oder Mehrlingsverlusts ist lang. Daher möchte ich hier „nur“ die häufigsten Punkte erwähnen, die mir in meiner Praxis bisher begegnet sind.
Die folgenden Punkte können sich nicht nur auf Menschen mit einem Verlorenen Zwilling beziehen, sondern generell auch auf Menschen, die mit einem Seelenkind „identifiziert sind“ (Dr. Ero Langlotz), das z.B. durch Fehlgeburt, Abtreibung oder künstliche Befruchtung zur Familie gehört:
- unerklärliche Traurigkeit und Schwere bis hin zu depressiven Verstimmungen
- Trennungs- und Verlustängste
- Angst vor Veränderung und vor neuen Situationen; Neues erscheint potenziell gefährlich
- Wut als Ausdruck von Ohnmacht, Kontrollverlust, Frust (evtl. aufgrund einer vermeintlichen Abweisung durch den Zwilling), Hilflosigkeit (evtl. durch die fehlende Reaktion des verstorbenen Zwillings), etc.
- Gefühle von unstillbarer Sehnsucht, einer nicht füllbaren Leere im Herzen oder einem unbegreiflichen Loch in der Seele
- grundlegende Verunsicherung dem Leben gegenüber: im Leben (oder in der Familie/Gruppe/Gemeinschaft) nicht da ankommen, wo es sich richtig anfühlt
- mangelnde Abgrenzungsfähigkeit; Orientierung am Du statt am Ich/Selbst
- Hochsensibilität/Hochsensitivität
- ohne ein bestimmtes Kuscheltier oder Accessoir geht nichts
- großer Wunsch nach der einen besten Freundin oder dem einen besten Freund; sehnlichstes Verlangen nach einem Geschwisterchen
- der Platz in der Familie fühlt sich falsch an; z.B. steht das erstgeborene Kind eigentlich an zweiter Stelle, da der Verlorene Zwilling zuerst gegangen ist und damit systemisch gesehen auch an erster Stelle zu verorten ist.
- Kinder beschäftigen sich schon ungewöhnlich früh mit den Themen Tod und Sterben
- das Gefühl, es alleine nicht zu schaffen (Versagensängste) UND/ODER das Gefühl, alles alleine schaffen zu müssen (Leistungsdruck)
- für zwei oder drei Menschen leben: Dinge doppelt oder dreifach essen/kaufen/Leistungen erbringen müssen (Udo Lindenberg: „Stark wie zwei“) UND/ODER nur die Hälfte essen/sich im Leben zugestehen
- starkes Bedürfnis, anderen Menschen helfen, sie retten oder für sie Verantwortung übernehmen zu wollen, insbesondere in der eigenen Familie und bei nahestehenden Menschen
- mehr zu geben als zu nehmen
- Kopfmenschen: übertriebenes Rationalisieren, alle Probleme im Kopf lösen, da es im Herzen ja so weh tut
- verschiedene Symptome bezogen auf den so genannten „Fluchtzwilling“ (Angst vor Nähe; Über-Abgrenzung; Ablehnung der Liebe von anderen; u.v.m.) UND/ODER „Schmelzzwilling“ (Selbstaufgabe; Helfersyndrom; Suche/Sucht nach Liebe von anderen; u.v.m.)
- in Beziehungen: Tendenzen zu Symbiose/Co-Abhängigkeit/Fremdbestimmung statt Autonomie/Authentizität/Selbstbestimmung (Dr. Ero Langlotz)
- auch körperliche Auswirkungen können in Zusammenhang mit dem Verlorenen Zwilling/Mehrling stehen: erhöhter Stresshormonspiegel, Schreibabys, Müdigkeit/Erschöpfung/Energiemangel, Hyperaktivität, Schlafprobleme, Skoliose, Bettnässen, Magersucht/Übergewicht
WOFÜR ist die Erfahrung des Verlorenen Zwillings „gut“?
Wenn ich aus meiner verständlicherweise menschlichen Perspektive nach dem WARUM frage: Warum ist mir das passiert? Oder: Warum musste mein Kind so eine leidvolle Erfahrung machen? Dann lande ich unweigerlich bei den Themen Schuld, Angst, Verzweiflung, Ohnmacht, vielleicht sogar Todessehnsucht.
Eine befreundete Therapeutin hat einmal zu mir gesagt: „Auf Seelenebene betrachtet ist [all dieses Drama] eigentlich Quatsch, da die Seelen sich ja verabredet haben.“
Wenn es mir also gelingt, diese Seelenabsprache anzunehmen und den Schritt vom WARUM zum WOFÜR zu machen, dann fühlen sich die Antworten leichter an in meinem Herzen und in meiner Seele.
Was macht es mit mir als Mama oder Papa eines alleingeborenen Zwillings oder Mehrlings?
Wenn mein Kind seine Zwillingsschwester, seinen Zwillingsbruder oder noch mehr Seelengeschwister verloren hat, bedeutet das, dass auch ich als Mama oder Papa eine Tochter, einen Jungen oder noch mehr Kinder verloren habe. Falls durch Fehlgeburten, Abtreibungen oder künstliche Befruchtung noch mehr Seelenkinder im Familiensystem sind, gibt es meist sehr viele ungeweinte Tränen. Dies kann zu einer tiefen, unbewussten Traurigkeit und/oder zu einem nicht in Worte fassenden, diffusen Gefühlschaos führen.
Und wenn ich selbst von einem Zwilling- oder Mehrlingsverlust betroffen bin? Einerseits kann ich mein alleingeborenes Kind besser als jeder andere verstehen und die Emotionen und Themen sehr gut nachvollziehen.
Andererseits können sich die belastenden Auswirkungen bei meinem Kind wiederum als eine Art Retraumatisierung bei mir zeigen, die Beziehung zwischen uns erschweren und zu noch weiteren Verstrickungen führen. Meine Tochter litt nicht nur selbst unter einer enormen Trennungsangst. Sie hat mir auch meine Emotionen von Verlassenheit, Überwältigung und Verlustangst widergespiegelt. Erst als ich mir selbst erlaubte, meine schmerzvollen Erinnerungen wahrzunehmen, ganz viel zu weinen, durch-zu-fühlen und loszulassen, hat meine damals 2-Jährige sich entspannt mit einem „Tschüss, Mama“ zu ihrer liebevollen Tagesmutter umgedreht und dort eine glückliche Zeit verbracht.
Im Falle von retraumatisierenden Beziehungskonstellationen kann es helfen, dass die Mama und/oder der Papa zuerst selbst in den Frieden mit dem eigenen Verlorenen Zwilling kommt. Und anschließend in den Frieden mit dem weiteren verlorenen Kind.
Mit diesen Methoden ünterstützen wir das Körper-Energie-System im Umgang mit dem Zwillingsverlust:
- Reflexintegration mit RIT® und KinFlex®
- V.E.N.U.S.® Zentrierungstherapie
- Emotion Code® und Body Code®
- Stirnstrich-Methode von Dr. Heinrich Zeeden
- Höhere Emotionen und weitere synchronizierende Frequenzen nach Dr. Joe Dispenza
- Strichmännchen-Technik
- Übungen aus dem Buch „Seelenkinder“ von Sereina Heim
„Auf Seelenebene betrachtet
ist [all dieses Drama] eigentlich Quatsch,
denn die Seelen haben sich ja verabredet.“
(Eva Laier)